Ein Beitrag von Theres Boneberger, Birgit Klemczak und Hendrik Bollmann
Wer im Sport heutzutage von Talentförderung spricht und wie man international konkurrenzfähig wird, kommt um die Fragen der Frühförderung nicht herum.

Ob Leichtathletik, Schwimmen, Turnen oder Fußball – die Vorbereitung auf den Leistungssport geht mehr oder weniger weit vor der Pubertät los. Auch in der Bildung hat der Grundgedanke der Frühförderung Einzug gehalten. Kindergarten und Kindertagesstätten sind nicht länger reine Betreuungsorte. Hier findet bereits der Start aller Bildungsbiographien statt.
Die Allgemeine Hochschulreife am Gymnasium als Non Plus Ultra…
Wenn es jedoch um die Spezialisierung hinsichtlich des Berufslebens geht, werden die Jugendlichen doch lieber länger in der „allgemeinen Turn- und Sportgruppe“ belassen. Die Allgemeine Hochschulreife am Gymnasium ist in der öffentlichen Wahrnehmung das Non Plus Ultra. Wenn es am Gymnasium schwierig wird, soll sie an der Gesamtschule absolviert werden, wo die Schülerinnen und Schüler in der Regel mehr Zeit erhalten.
Von dort aus soll es dann an die Uni gehen. Nicht wenige Eltern wünschen sich, dass ihr Kind einen Studiengang in den Ingenieurswissenschaften ergreift. Vor allem aber der Staat tut es. Denn: Gute, nein, Spitzeningenieure sind die Grundlage dafür, dass viele andere Menschen, mit oder ohne Abitur, Arbeit bekommen. Entweder, weil sie im direkten beruflichen Umfeld von Ingenieuren arbeiten (Baustelle, Fabrik, Büro) oder weil durch ihre Wertschöpfung die Grundlagen unseres Wohlstandes gelegt werden.
… zum Nachteil der Praxisorientierung in einer Region der „Macher“
Ja, die Kolleginnen und Kollegen an Gymnasium und Gesamtschulen machen sehr gute Arbeit, um die Schülerinnen und Schüler bestmöglich vorzubereiten. Letztendlich gehen diese aber dann doch in die Ingenieursstudiengänge ohne mal ein Stück Metall bearbeitet oder in irgendeiner anderen Form konkrete Erfahrungen in Werkstätten gesammelt zu haben – und das im Ruhrgebiet! Dabei: Die regionale Mentalität der „Macher“ zu bewahren ist an der einen oder anderen Stelle vielleicht wichtiger als der Umbau unserer Region zum industriellen Freilichtmuseum.
Die schulische Alternative dazu ist vorhanden: an den Berufskollegs gibt es auch die Möglichkeit die Allgemeine Hochschulreife zu erwerben – und das mit der Möglichkeit eben jene beruflichen Erfahrungen zu sammeln, „Macher“ zu werden. Es gibt die Berufskollegs auch in unserer Region, die das berufliche Abitur in verschiedensten Facetten anbieten. Allerdings: Es ist aber noch lange nicht jedes. Und das Abi am Berufskolleg fristet in der Wahrnehmung vor allem der Gymnasialklientel ein Nischen-Dasein. Häufig wird es auch „nur“ als Notlösung angesehen, wenn es woanders nicht hinhaut. Oder wer kennt schon einen Jungen oder ein Mädchen, das mit besten Noten ausgestattet, aus freien Stücken ans Berufskolleg geht, um dort das Abi zu machen?
Frühförderung zukünftiger Ingenieure und Innovationspotenzial an Berufskollegs
Diese Wahrnehmung wird den Potenzialen der Werkstätten der Berufskollegs und ihres Lehrpersonals nicht gerecht. Warum?
- Wer an die Abbrecherquoten in den Ingenieursstudiengängen denkt, sollte ein Interesse daran haben, dass Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe besser auf das Kommende vorbereitet werden. Sie kriegen in den Werkstätten und dem berufsspezifischen Unterricht vor der „Weitsprunggrube“ Universität also ein bisschen „Anlauf“.
Junge Ingenieurinnen und Ingenieure können an Berufskollegs früher ihre Talente entwickeln. - Dieser „Anlauf“ bietet nicht nur das Potenzial dem späteren Scheitern vorzubeugen. Das Alter, in dem er stattfindet, ist auch das Alter von Einfallsreichtum und Ideen. In den Werkstätten kann nicht nur „Lernen vom Meister“, sondern auch „Innovation vom Lehrling“ stattfinden. Warum Gründerzentren erst an Universitäten andocken, wenn es die Potenziale bereits in den Werkstätten der Berufskollegs gäbe?
Verstärkte Kooperationen mit Gymnasien und Gesamtschulen denkbar
Und warum Berufskollegs, Gymnasien und Gesamtschulen nicht schon ab der zweiten Hälfte der Sekundarstufe 1 stärker zusammendenken? Berufliche Kenntnisse sind nicht nur für die Schülerinnen und Schüler gut, die den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 und 10 am Berufskolleg machen, sondern auch für solche aus den Jahrgängen der Klassen 8 bis 10 der Gymnasien und Gesamtschulen. Dieses Zusammendenken könnte sich in der Oberstufe fortsetzen. Die Bildungslandschaft des Ruhrgebiets mit ihrer Vielfalt und kurzen Distanzen muss auch in diesem Bereich nicht im Entweder-Oder enden.
Berufskollegs, Bildungspolitik und Verwaltungen des Ruhrgebiets gefordert
Dafür müssen die Berufskollegs in der bildungspolitischen Debatte weiter nach vorne kommen. Hier ist sicherlich Eigeninitiative der Berufskollegs von Nöten, um sich letztlich mit breiter Brust im Wettbewerb der Schulen mit Oberstufe zu präsentieren und um die Ingenieure von morgen zu werben.
Aber auch Politik und Verwaltungen sind gefordert, wenn es um die skizzierte Neupositionierung des Berufskollegs in der Bildungslandschaft geht. Die Frage, ob und wie wir Industrieregion sein werden, entscheidet sich gerade in diesen Tagen im Kampf um den Stahl im Ruhrgebiet. Die langfristige Strategie für eine Industriepolitik im Ruhrgebiet muss jedoch die Berufskollegs strategisch mitdenken. Es muss deutlich gemacht werden: hier wird an der (grünen) Industrie von morgen gearbeitet. Hier sind Personal, Knowhow und Innovationspotenzial vorhanden! Die Bildungspolitiker der Städte sind ebenfalls gefordert. Eine wichtige Rolle kann hierbei sicherlich auch der neue Ausschuss im Ruhrparlament für „Digitalisierung, Innovation und Bildung“ einnehmen.
Zu den Autoren:
Birgit Klemczak, Schulausschussvorsitzende des Herner Stadtrats (SPD)
Theres Boneberger, schulpolitische Sprecherin der SPD Ratsfraktion Herne & Herner Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD Herne
Hendrik Bollmann, SPD-Mitglied im Ausschuss „Digitalisierung, Bildung und Innovation“ des Ruhrparlaments