Warum wir mehr reden und zuhören müssen!

Ich kann jeden verstehen, der sich über das Gesagte des CDU-Vorsitzenden Merz empört. Ich kann jeden verstehen, den die AfD-Umfragewerte beunruhigen. Mir geht es genauso. Und natürlich ist es für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten undenkbar mit einer Partei wie der AfD zu koalieren. Es ist nämlich unzweifelhaft, welche Gestalten sich in den Strukturen der Partei von ganz unten bis ganz oben bewegen. Das tieferliegende Problem ist jedoch die nachhaltig zu beantwortende Frage, warum sich so viele Menschen von der etablierten Politik abwenden. Neben dem Kampf gegen Rechts müssen wir den Kampf um Menschen aufnehmen und dafür unsere bisherigen Wege überdenken.

 

 

Kampf gegen Rechts darf nicht zum Ritual ohne Wirkung werden!

Man muss aufpassen, dass 10 Jahre nach Gründung der Partei die üblichen Reaktionen im Netz auf Äußerungen von irrlichternden CDU-Vorsitzenden oder bedrückenden Wahlergebnissen nicht zum bloßen Ritual ohne Wirkung verkommen. Gebracht haben sie bisher nämlich wenig. Die Partei scheint stärker dazustehen als je zuvor. Anders als die NPD kann die AfD bei Mitbürgerinnen und Mitbürgern punkten, die bisher eigentlich immun gegen Rechts schienen. Die ständige Dämonisierung reicht hier nach meinen Erfahrungen in Gesprächen vor Ort nicht aus, sie schadet meiner Auffassung nach sogar eher.

So ehrenwert das Engagement vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den sozialen Netzwerken unter dem Banner „Nazis raus!“ ist, so sehr setzen wir uns dem Verdacht aus, dass es doch vor allem um Selbstvergewisserung nach innen für die eigene Blase geht. So sehr ich es mir wünschen würde, aber mir ist noch niemand außerhalb unserer sozialdemokratischen Blase begegnet, der sich davon überzeugen ließ.

Über die eigene Blase hinaus denken!

Ein erster wichtiger Schritt in einem effektiven Kampf gegen Rechts wäre die Einsicht, dass wir konsequenter über die eigene Blase hinaus kommunizieren müssen, an die Menschen jenseits des Politikbetriebs. Das hätte Konsequenzen, weil viele Menschen die Lage anders bewerten als wir das aus unserem Sozi-Kosmos heraus tun. Es geht nicht ums Hinterrennen, sondern um die Frage: „Erreichen wir eigentlich die Menschen da draußen und erreichen wir ein Nachdenken?“

Kämpfen wir um Menschen!

Ein zweiter wichtiger Schritt findet vor allem im Kopf und unser Sprache statt: Dem „Kampf gegen Rechts“ sollte der „Kampf um Menschen“ gleichgestellt werden. Der Kampf gegen die wahrnehmbar aggressiver und militanter auftretende rechte Szene muss ausgebaut werden. Das ist der Staat auch allen Schutzbedürftigen, Minderheiten und dem friedlichen Zusammenleben gegenüber schuldig.

Jede Radikale braucht jedoch ein Umfeld, das zwar nicht mitmacht, aber stillschweigend akzeptiert, weil vermeintliche Lösungen von Problemen serviert werden, deren Existenz von der etablierten Politik kleingeredet oder verneint wird. Nicht um die Rechten, aber um dieses Umfeld müssen wir uns kümmern. Anstatt alle Menschen, die aus unterschiedlichsten Motiven ihre Unzufriedenheit ausdrücken – so abwegig für uns das auch erscheinen mag – unter das Label „Nazis“ oder „Rechts“ zu stellen, sollten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, wer diese Menschen sind und woher ihre Unzufriedenheit kommt. Sonst finden wir uns am Ende an der Stelle wieder, an der die US-Demokraten und die politische Landschaft der USA sich heute befinden, was durch den Trumpismus und seine internationalen Ausläufer die größte Gefahr für die liberale Demokratie darstellt.

Unverblümt mit der Realität vor Ort befassen!

Der dritte und zentrale Schritt: Beschäftigen wir uns intensiver und unverblümter mit den realen Bedingungen vor Ort. Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten bereits dramatisch verändert. Arbeitswelt und Gesellschaft. Die Wahrnehmung der Veränderungen ist unterschiedlich – je nachdem, wo man in der Gehaltstabelle steht und wo man entsprechend wohnt. Und gelungen sind die realen Lebensbedingungen auch nicht überall.

Die Nachfolgerinnen und Nachfolger der alten Industriearbeiterklasse erlebten und erleben diesen Wandel am krassesten. Ihre Jobs sind in Dienstleistungsberufen schlechter bezahlt und deutlich weniger mitbestimmt. Die Aussicht auf eine auskömmliche Rente wie sie noch die alte Industriearbeiterklasse kannte, ist seit Anfang der Nuller Jahre dahin. Die Probleme der Viertel, in denen sie wohnen sind bis heute chronisch und nicht bewältigt. Obwohl Politik und Wissenschaft sie selbst regelmäßig diagnostizieren. Wenn sie Kita- und OGS-Plätze finden, bieten diese in ihrem Umfeld die schwierigeren Bedingungen. Große und kleine Konfliktlagen spielen sich häufiger in ihren Quartieren ab. Wenn man sich dort auf eines verlassen kann, dann ist es die permanente Veränderung. Das Stresslevel ist hoch, egal ob man deutsche, türkische oder welche Wurzeln auch immer hat. Nach täglich 8 Stunden schlechter bezahlter Arbeit, will man das nicht auch noch haben. Hier stellen auch 70% Förderung für Heizungen eine Überforderung dar.

Die Versuche, diesen Milieus zu helfen, waren in den letzten Jahren seitens der SPD glaubhaft da. Echte Wirkungsmacht, das müssen wir uns eingestehen, entfalteten sie aber nicht. Und für „Es hätte noch schlimmer kommen können!“ wird man nicht gewählt. Dabei erwarten diese Menschen nicht viel: der Staat soll einfach nur funktionieren. Demokratieförderprogramme von Bund und Land sind sinnlos, wenn einige Städte und Gemeinden so arm sind, dass mittlerweile der Putz von den Schuldecken bröckelt.

Und dann kamen auf diese „neue Arbeiterklasse“, die in den letzten Jahrzehnten soeben durch die Veränderungen von Arbeit und Gesellschaft gekommen sind noch die Krisen unserer Zeit mit ihren Folgen zu, zuletzt vor allem Corona und der Ukraine-Krieg.

Es scheint, dass rechte Kräfte aus dem Inland oder rückwärtsgewandte Kräfte aus dem Ausland es eher schaffen, den alltäglichen Schmerz der jeweiligen Gruppen in den Milieus besser auszudrücken als wir. Sie liefern zwar keine Lösungen, bauen mit der bloßen Aussprache des Gemütszustandes einer weitestgehend heterogenen Bevölkerungsgruppe jedoch eine Art Verbindung auf.  Das sollte uns zu denken geben. Wir verweigern in den üblichen Kommunikationsritualen des politischen Geschäfts nämlich schon das offene Ansprechen von Problemen. Wir werden folglich auch nicht mehr als Ansprechpartner wahrgenommen. Die permanente Wiederholung von Fortschritts- und Innovationsoptimismus einiger Teile der SPD hilft hier wenig, wenn nicht zuvor das Lösen akuter Probleme erfolgte. Wenn sich für die neue Arbeiterklasse seit Jahrzehnten die Einschätzung ergibt, dass sich Staat und Demokratie um sie nur unzureichend kümmern, woher soll dann ihre Begeisterung für die etablierten Parteien kommen? Die SPD hatte den alten Anspruch, dass es den Menschen immer besser gehen sollte. Diesem Anspruch müssen wir stärker wahrnehmbar nachkommen.

Weg von den Tastaturen! Raus ins Leben!

Vierter und wichtigster Schritt, den wir (Sozial-) Demokratinnen und Sozialdemokraten leisten müssen: Weg von den Tastaturen und Bildschirmen. Raus ins Leben. Im Gegensatz zum Osten haben wir die Lage im Westen, insbesondere im Ruhrgebiet noch selbst in der Hand. Die Ortsvereine sind nicht mehr so groß wie früher. Für monatliche Bürgersprechstunden, Hausbesuche, Gespräche in Kneipen, Vereinsheimen und Kiosken… das Kümmern, das Dasein vor Ort reicht es aber noch. Nichts ersetzt das reale Zusammenkommen vor Ort. Social Media kann dafür nur die Anbahnung sein.  Dabei sind wir natürlich darauf angewiesen, dass Bund und Land sich der Verantwortung bewusst sind, die unter Schritt 3 formulierten realen Lebensbedingungen der sich unentwegt verändernden Gesellschaft ernst zu nehmen und zu verbessern. Wir dürfen unsere Rolle vor Ort aber auch nicht zu klein reden im Kampf um Menschen.

 

Ich bin der Überzeugung: Wir sind die erste deutsche Politikergeneration nach dem zweiten Weltkrieg, die nun richtig um und für Demokratie kämpfen muss. Die Schrecken des zweiten Weltkriegs und ihre moralische Bedeutung sind für viele wegen der fehlenden Großelterngeneration nur noch abstrakt. Dass die Demokratie nicht zwingend alle im gleichen Maße „satt macht“, wie es noch zur Zeit der Großindustrien war, ist evaluierte und wahrgenommene Realität. Wenn wir diese Demokratie schützen, ja für sie begeistern wollen, müssen wir uns nun auf den Hosenboden setzen. Im Fußball sagt man „Gras fressen“. Menschen abholen, mit ihnen reden und ihnen zuhören, den tiefgreifenden Charakter der Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den persönlichen Biographien vieler Menschen verstehen und nachfühlen. AfD und irrlichternde CDU-Vorsitzende sind vor diesem Hintergrund nur Symptome tieferliegender Herausforderungen. Lasst uns um Menschen kämpfen!